EFGANİ DÖNMEZ Projektmanagement – Abgeordneter zum Nationalrat a.D.

Die Uhren werden zurückgedreht – nicht nur in der Türkei, sondern auch in Europa

Die performative Verachtung des Rechtsstaats, gedeckt von Präsident Erdogan und seinen Freunden in der Türkei wird auch Europa auf den Kopf fallen.

Ein derart flagranter Fall von Doppelmoral, Scheinheiligkeit und Desinformation der Politiker in der Türkei und Brüssel, gegenüber der türkischen Republik und seinen Bürgern kann und wird nicht ungesühnt durchgehen. Viele der Europapolitiker, insbesondere das bürgerliche Lager haben mit ihren Stehsätzen all ihre mühsam aufgebaute Glaubwürdigkeit im Umgang mit der Türkei unter Erdogan verspielt. Die Regierung und die Politiker in der EU haben einige Überschneidungen unf Gemeinsamkeiten. Man muss sie fortan als Verteidiger des Rechtsstaats und als aufrechte Demokraten für disqualifiziert ansehen.

Europa als Rückzugsbecken und Aufmarschgebiet für Islamisten mit Duldung der europäischen Mitgliedsländer, allen voran Deutschland, Belgien, Frankreich und Österreich.

Ein kurzer historischer Abriss, um vor Augen zu führen, wohin der Weg einer Gesellschaft führt, wenn Politik und Religion vermischt wird:

Am 3. März 1924 löste sich die Türkei von einem religiösen Staat und näherte sich dem Laizismus an. An jenem Tag beschloss die Nationalversammlung, das Amt des Kalifats, Symbol des islamischen Herrschers, abzuschaffen. Die Amtsbezeichnung, den die osmanischen Sultane seit 16 Jahrhunderten innehatten, wurde an einem Tag abgeschafft. In der Nacht des Beschlusses verließ der Kalif mit seiner Familie die Türkei und machte sich auf den Weg in die Schweiz.

Zwar lag die Ausrufung der Republik in Ankara erst vier Monate zurück, doch die Tatsache, dass in Istanbul immer noch ein Kalif regierte, erweckte den Anschein einer „Doppelherrschaft“. Dieses „Kräftemessen“ endete mit der Abschaffung des Kalifats zu Gunsten der Republik. 

Noch am selben Tag wurden per Gesetz die Madrasas, die Zentren des Religionsunterrichts, geschlossen und alle Schulen innerhalb der Landesgrenzen dem Ministerium für nationale Bildung unterstellt. Damit fand das duale System von religiösem und weltlichem Unterricht ein Ende und das Bildungswesen wurde vollständig säkularisiert. Wenig später folgte die Erkenntnis, dass auch nicht-muslimische türkische Bürgerinnen und Bürger in der Türkei religiöse Bedürfnisse haben, sodass der Koranunterricht aus dem Lehrplan der Grundschulen und der Religions-, Arabisch- und Persischunterricht aus den Lehrplänen der Sekundarschulen und Gymnasien gestrichen wurden.
Damit nicht genug: Am selbigen Tag wurde das Ministerium für religiöse Angelegenheiten eingerichtet, um die Religion unter die Kontrolle des Staates zu bringen. Von nun an sollten Beamte für die religiöse Aufklärung der Öffentlichkeit eingesetzt werden. 

Dieser „Dreierschritt“ der Säkularisierung, dessen 100. Jubiläum sich am Sonntag jährte, ist heute im Begriff, seine Gültigkeit zu verlieren. Die jüngsten Bestrebungen zur weit verbreiteten Islamisierung des Staates haben zu Forderungen nach dem Wiederaufbau des Kalifats geführt. Diese Forderung spitzte sich in den 1990er Jahren zu, als sich eine in Köln gegründete islamische Gemeinde als „Kalifatsstaat“ bezeichnete. Auch in der Türkei werden derartige Forderungen heutzutage immer öfter ausgesprochen.

Mit der zunehmenden Popularität des Religionsunterrichts und der damit einhergehenden Nachrangigkeit des öffentlichen Bildungswesens zur Religion hat sich eine Doppelstruktur herausgebildet. Und schließlich ist das Ministerium für religiöse Angelegenheiten, das zur Durchsetzung des Laizismus eingerichtet wurde, mit seinem riesigen Budget und einem Personalbestand von mehr als 200.000 Personen zur größten Bedrohung für den Laizismus geworden. Die Türkei, die vom Weg des Laizismus abrückt und religiösen Orientierungen zuwendet, begreift den Wert dieser großen 100-jährigen Bewegung heute weitaus besser.

Europa soll und darf diesen islamistischen Bewegungen keinen Rückzugs-, und Entfaltungsraum unter dem Dekmantel der religiösen Toleranz und demokratischen Grundrechte bieten, ansonsten wird Europa genau das, widerfahren, was die Türkei gegenwärtig erlebt. Die Aushöhlung der Demokratie mit demokratischen Mitteln, unabhängig davon, ob es sich um Islamisten oder sonstige Extremisten handelt.

Dieser Kommentar ist in Anlehnung an die Aussendung von Can Dündar, Exil-Journalist entstanden. Der überwiegende Inhalt dieses Kommentars wurde von seiner ozguruz.org-Aussendung vom 04.03.2024 übernommen.

Von Efgani Dönmez
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